Johannisloge "Zur Bruderliebe an der Nordsee" in Husum

 

Über die Musik als Kunst

Man sagt, über Geschmack lasse sich nicht streiten. Schon seit Langem bemühe ich mich, eine akzeptable Erklärung für den Unterschied zwischen der Unterhaltungs- und der sogenannten ernsten Kunst zu finden.

Natürlich könnte man diese Frage einfach beiseitelassen, anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Dem einen gefällt Mozarts Musik , einem anderen erscheint sie langweilig – er hört lieber ein Rock-Konzert. Die Leute sind verschieden veranlagt, und alle haben sie das Recht, Vergnügen auf ihre Art zu finden. In dieser Hinsicht sind sie völlig gleichberechtigt.

Was die Literatur betrifft: In der Buchhandlung kann man allerlei Lektüre finden: von der „Chick-Lit“, der anspruchslosen „Mädels-Literatur“, und Liebesund Abenteuerromanen über die Werke von Agatha Christie bis zu Thomas Mann und Aristoteles.

Oder nehmen wir die bildende Kunst: Die laszive Malerei mit den halb nackten Schönen auf dem Bett findet zahlreiche Liebhaber, auf der anderen Seite gibt es dagegen Künstler wie Rubens, Michelangelo, Leonardo.

Es ist gut, dass es all das gibt, und ich weiß es zu schätzen, dass wir heute in einer Zeit leben, in der keiner dem anderen seinen eigenen Geschmack aufzwingen kann. (Neuerdings scheint sich ja sogar schon Frieden zwischen Rauchern und Nichtrauchern anzubahnen …)

Ich befürchte allerdings, dass in diesem von Demokratie und Konsens geprägten Zeitalter unsere Konzepte sowohl von Schönheit als auch von Wahrheit im Begriff sind, sich aufzulösen – in dem betäubenden Radau von Lauten, Farben und Reklametricks, der uns umgibt. Kritik, soweit sie diesbezüglich überhaupt geäußert wird, hat sich vorsichtig in darauf spezialisierte Literatur zurückgezogen. Und sie wird ausschließlich von einem kleinen Kreis Spezialisten verfolgt.

Ich sehe mich nicht in der Lage – und möchte es auch gar nicht erst versuchen –, dieses seltsame Etwas, das „Kunst“ genannt wird, zu definieren. Doch möchte ich hier ein paar Gedanken um die Zukunft zitieren, die ich kürzlich irgendwo gelesen habe und die meinen Auffassungen nahekommen: „Was ist zu tun? Gedenken wir der alten Werte und Riten, solange wir das noch können. Vielleicht sollten wir einfach dankbar sein, dass es immer noch etwas „Verkehrtes“ gibt, das an und für sich unpraktisch, sogar antikapitalistisch ist – wie es die Kunst ist und auch der Kunstgenuss. Etwas so Geheimnisvolles, Unreelles, Reiches und sehr oft in sich Verliebtes, das wir bewundern und bewahren müssen, denn wenn es tatsächlich solche Qualitäten besitzt, sollten wir ihm dankbar sein – und zwar allein schon wegen seiner Existenz.“

Niemand würde leugnen, denke ich, dass der Kunstgeschmack der Erziehung unterliegt. Um Kunstwerke genießen zu können, braucht man Erfahrung – wie bei jeder anderen menschlichen Tätigkeit auch. Einer der ersten Schritte eines Menschen, der die Kunst für sich selbst entdeckt, sollte vielleicht der Versuch sein, sich das Vermögen anzueignen, das Triviale von dem tatsächlich Schönen abzugrenzen. In der Malerei zum Beispiel wird der weibliche Akt, der abgebildete nackte Körper erst dann zur Kunst, wenn wir aufhören, ihn als ein ausgekleidetes Weib aufzufassen, und stattdessen von der Reinheit der Linien, von Zartheit, Schönheit, Umfang und Perspektive zu sprechen beginnen.

Und die Poesie wird erst dann zur Kunst, wenn die Worte – die einfachen, durch den alltäglichen Gebrauch ermüdeten und abgenutzten Wörter – wieder mit ihrer ursprünglichen Kraft zu glänzen beginnen. Und die Musik, die wahrscheinlich die „sinnigste“ aller Künste ist, wird erst dann zur Kunst, wenn darin zum Ausdruck kommt, das wenigstens ein Teil des Weges von den elementaren Melodien bis zu der ungeheuren Kathedrale, welche die Werke von Johann Sebastian Bach, die letzten Quartette von Beethoven, die Schöpfungen so vieler anderer Komponisten darstellen, zurückgelegt worden ist. Der Weg all derjenigen, die bestrebt sind, sich auszubilden, kennt kein Ende. Vergleichbar der Schule, die wir alle zu besuchen haben, legt die Grundschule im wahrsten Sinne des Wortes die Grundlage. Darauf folgen das Gymnasium und die Universität. Das gilt natürlich für all diejenigen, die lernen wollen. Und wir wissen, dass der Satz des Sokrates, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, am Anfang und am Ende dieses Weges steht.

Es ist ein besonderes Privileg, das Schöne von dem Gewöhnlichen, dem Alltäglichen abgrenzen zu können, in die innere Welt der Großen der Kunst vorzudringen. Wir sollten dankbar sein, wenn wir dieses Vermögen als Gabe bei unserer Geburt mitbekommen haben. Doch auch in diesem Fall sind wir verpflichtet, für die Entwicklung unserer Begabung zu sorgen. Und ja, ganz bestimmt ist solch ein Talent, solch eine Gabe notwendig nicht nur, wenn man Kunstwerke schaffen will, sondern auch, wenn man sie genießen möchte. Ein derart begabter Zuhörer, Zuschauer oder Leser zu sein bedeutet, dass man tatsächlich nach dem Schönen und Wertvollen in der Kunst sucht, dass man ständig an sich arbeitet und bestrebt ist, sich daran zu bereichern.

Was uns mit denjenigen verbindet, die vor uns gelebt haben, ist die Kunst, die sie uns hinterlassen haben. Dazu zählen „Das Lied der Lieder“ und die frühzeitlichen Zeichnungen in der Höhle von Lascaux, die Werke von Euripides und Sophokles, Praxiteles und Phidias … – ein reicher Schatz an Kunstwerken ist uns als Erbe zugefallen. Die Menschen, die diesen Schatz geschaffen haben, mögen längst vergangen sein, doch ihre Welt fasziniert uns immer wieder.

Schade, denke ich manchmal mit großem Bedauern, dass wir niemals mehr in der Lage sein werden, die Musik des alten Griechenlands hören zu können. Doch aus späteren Zeiten ist uns eine unglaublich große Zahl wunderbarer musikalischer Schöpfungen geblieben – von der frühesten aufgeschriebenen Kirchenmusik bis zu den zeitgenössischen Partituren für Sinfonieorchester, diesem Wunder der europäischen Musik.

In den Werken der großen Komponisten der Vergangenheit steckt der göttliche Funke, der unsere Welt entzündet und begründet hat. Und sie decken in uns Gefühle auf, die sie mit uns verbinden. Der Kontakt mit der Kunst der Vergangenheit ermöglicht uns, uns selbst und unsere Zeit besser zu verstehen. Wir werden uns unseres Platzes in der Welt bewusst. In Werken wie Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ und Shakespeares „Romeo und Julia“ begegnen wir den gleichen jungen Menschen, wie wir es sind oder gewesen sind, in Beethovens „Pastoraler Symphonie“ vernehmen wir den Sturm und das Donnergrollen des immer wieder vergehenden Sommers, im Märchen von Mozarts „Zauberflöte“ entdecken wir unsere Zweifel und unsere Wünsche, nach verwandten Protagonisten suchen … Ja, von der Kunst können wir vieles lernen! Ich bin davon überzeugt, dass die Kunst es vermag, uns besser zu machen.

Doch das Wichtigste – dasjenige, weshalb die Kunst eigentlich existiert – ist der Genuss, ist die emotionelle Verbindung, die zwischen uns und dem Kunstwerk entsteht. Diese schwierig zu erklärende Anziehung, die es in uns auslöst. Diese Verbindung kann nicht durch Zwang entstehen. Sie entsteht nur, wenn wir bereit für sie sind. Leider gibt es viele Menschen, die geboren werden, leben und sterben, ohne überhaupt eine Ahnung davon zu haben, dass das Wunder der Kunst existiert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Konzerte der sogenannten ernsten Musik ein relativ kleines Publikum finden. Selbst massenhaft besuchte Festivals und volle Konzertsäle wiederum garantieren nicht unbedingt ein tatsächlich wertvolles künstlerisches Erlebnis. Der Kontakt mit der Kunst ist eben etwas Intimes. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Zuhörer heraus erinnere ich mich jetzt vorwiegend nur noch an Konzerte mit einem eher kleinen Zuhörerkreis, die jedoch für die wenigen wirklichen Kenner wahre Feste geworden sind.

Vielleicht ist es die Stille, die unseren gegenwärtigen Gesellschaften am meisten fehlt. Schließlich gibt es keinen herrlicheren Moment als die Stille im Konzertsaal vor Beginn des Konzerts. Welch ein großes Privileg, eine Weile dieser Stille zu lauschen, diesem Gebären der Musik!

Und dabei allein mit sich selbst zu sein.

Prof. Ventseslav Nikolov